Gemäss einem kürzlich ergangenen Urteil des Bundesgerichts unterliegt der einzige Verwaltungsrat (VR) einer AG keinem unvermeidbaren Irrtum über die tatsächliche wirtschaftliche Lage des Unternehmens, wenn er sich ausschliesslich auf die (unzutreffenden) Auskünfte des Generaldirektors verlässt. Da der Beklagte gewusst hat, dass es bei Buchhaltung und Revision zu erheblichen Verzögerungen gekommen ist, gehört es zu seiner Sorgfaltspflicht, sich die notwendigen Informationen auch andernorts zu beschaffen. Dazu gehören insbesondere auch Erkundigungen bei der Person, welche die Buchhaltung führt, und bei der Revisionsstelle. Der VR haftet für die dadurch entstandene Konkursverschleppung.
Die Unterlassung der Überschuldungsanzeige (Art. 725 Abs. 2 aOR) und die damit verbundene Konkursverschleppung stellt eine arge Nachlässigkeit in der Berufsausübung dar und erfüllt den strafrechtlichen Tatbestand der Misswirtschaft (Art. 165 Ziff. 1 StGB). Das Bundesgericht hat diese Rechtsprechung bestätigt.
Konkret hatte der verurteilte Präsident des Verwaltungsrats als Organ der betroffenen AG (Art. 29 StGB) das Gericht trotz Überschuldung acht Monate lang nicht informiert. Die Überschuldung war nicht zuletzt deshalb eingetreten, weil eine vom Unternehmen erstellte Software nicht hat aktiviert werden dürfen: Diese hatte keinen mehrjährigen bzw. nachhaltigen messbaren Nutzen für die Gesellschaft, die notwendigen finanziellen Mittel zur Fertigstellung des Produkts hatten nicht vorgelegen und die für den Vertrieb zuständige Gesellschaft war Konkurs gegangen. Gemäss Urteil hat die Revisionsstelle korrekt auf diese Umstände hingewiesen.
Vereinigtes Urteil Nr. 4A_465/2022 und 4A-467/2022 vom 30. Mai 2023, zur Publikation vorgesehen
Die Revisionsstelle haftet solidarisch mit der Muttergesellschaft und dem einzigen Verwaltungsrat der konkursiten Tochtergesellschaft, wenn letztere unzulässig hohe Dividenden an die Muttergesellschaft ausschüttet und dabei wesentliche Mängel in der Rechnungslegung aufweist, die von der Revisionsstelle nicht moniert wurden (für ein hängiges Schiedsverfahren waren zu wenig hohe Rückstellungen gebildet worden, der Kostenvorschuss an das Schiedsgericht war unzulässigerweise erfolgsneutral verbucht worden und die Forderung gegenüber einem Drittunternehmen hätte mangels Vermögenswerten derselben nicht aktiviert werden dürfen). Wenn eine Rechtsanwaltskanzlei die Wahrscheinlichkeit eines Unterliegens mit rund 50% einschätzt, dann ist eine anteilmässige Rückstellung (50% der Forderung) angezeigt. Interessant sind auch die Ausführungen zur unechten Konkurrenz zwischen Verantwortlichkeitsklage (Art. 754 ff. OR) und Rückforderungsklage (Art. 678 OR).
Interessantes Urteil des Bundesgerichts zur Haftung der eingeschränkt prüfenden Revisionsstelle: Auch wenn die Frage letztlich offengelassen wird, kann die beklagte Revisionsstelle (wie schon unter dem alten Recht vor 2008) eine Wissenszurechnung erfahren, wenn sie bei der Buchführung des geprüften Unternehmens mitgewirkt hat. Konkret kann sich der Zeitpunkt, zu dem die Anzeige der Überschuldung hätte erfolgen sollen (und damit die Dauer der Konkursverschleppung) vom Zeitpunkt der Prüfung der Jahresrechnung nach vorne auf den Zeitpunkt der Erstellung der Jahresrechnung verschieben.
Gemäss einem diesjährigen Urteil des Bundesgerichts bezieht sich die „Business Judgment Rule“ (BJR) nur auf Geschäftsentscheide, nicht aber auf Kontroll- und Organisationsaufgaben, die der justizmässigen Nachkontrolle unterstehen. Zu diesen Kontrollaufgaben gehört insbesondere auch die Einhaltung der Vorschriften zur Rechnungslegung. Das vorinstanzliche Schiedsurteil der Sanktionskommission der Schweizer Börse gegen eine börsenkotierte Gesellschaft war allerdings vor Bundesgericht nur unter der Willkür-Kognition und damit eingeschränkt überprüfbar (vgl. Art. 393 ZPO).
Urteil Nr. 2C_76/2023 vom 14. November 2023, E. 4.2.2
Das Bundesgericht hat in einem neuen Urteil zum ersten Mal entschieden, dass der revisionsrechtliche Grundsatz «not documented not done» auch höchstrichterlich gilt. Wurden bestimmte Revisionsarbeiten nicht dokumentiert, so darf daraus geschlossen werden, dass sie nicht durchgeführt wurden.
BGE Schweizer Gesellschaftsrecht – Abschluss nach anerkanntem Standard zur Rechnungslegung – neuer Leitentscheid des Bundesgerichts (BGer):
Das BGer hat gestern (18.01.2024) einen neuen gesellschaftsrechtlichen Leitentscheid veröffentlicht, und zwar betreffend Art. 962 OR, der festlegt, wann ein Abschluss nach einem anerkanntem Standard zur Rechnungslegung zu erstellen ist.
Das BGer bestätigt, dass die Erstellung eines entsprechenden Abschlusses mit Klage gerichtlich erzwungen werden kann, wenn das oberste Leitungs- und Verwaltungsorgan dem Begehren um einen Abschluss nach anerkanntem Standard trotz gegebenen Voraussetzungen nicht nachkommt (E. 3.2 mit Hinweisen).
Weiter behandelt das BGer die in der Lehre umstrittene Frage, „bis zu welchem Zeitpunkt der Abschluss nach anerkanntem Standard für ein bestimmtes Geschäftsjahr zu verlangen ist“ (E. 3.3). Im Ergebnis beantwortet das BGer diese Frage folgendermassen (E. 6.6):
„Das Recht, gestützt auf Art. 962 Abs. 2 Ziff. 1 OR für ein bestimmtes Geschäftsjahr einen Abschluss nach einem anerkannten Standard zu verlangen, ist spätestens sechs Monate vor dem Stichtag der Abschlussbilanz des betreffenden Geschäftsjahrs auszuüben, jedenfalls bei Aktiengesellschaften.
Ob sich diese Regel unmittelbar durch Auslegung der einschlägigen obligationenrechtlichen Bestimmungen oder durch (zulässige) Lückenfüllung ergibt, kann dahingestellt bleiben (…). Die Frist ist jedenfalls im Gesetz angelegt und fügt sich nahtlos in das normative Gefüge ein; sie ist notwendig, um die vom Gesetzgeber sorgfältig getroffene Abwägung der auf dem Spiel stehenden Interessen zu verwirklichen und fortzuschreiben.“
In Bezug auf den vom BGer zu beurteilenden Fall bedeutet das vorstehende Auslegungsergebnis (E. 6.7):
„Das Geschäftsjahr der Beschwerdegegnerin dauert jeweils vom 1. Januar bis zum 31. Dezember. Der Stichtag für die Abschlussbilanz des Geschäftsjahrs 2020 war der 31. Dezember 2020. Die Beschwerdeführerin hätte demnach – soweit die Jahresrechnung 2020 betreffend – spätestens Ende Juni 2020 einen Abschluss nach einem anerkannten Standard verlangen müssen. Sie gelangte indes erst Mitte Juli 2020 mit diesem Ansinnen an die Gesellschaft. Erst recht zu spät ist sie, soweit sie für die Geschäftsjahre 2018 und 2019 einen Abschluss nach einem anerkannten Standard einfordert.“
Urteil des Bundesgerichts: Bei einer ungesicherten Forderung von einer Million US-Dollar gegen ein ausländisches Unternehmen, die seit 22 Monaten nicht beglichen worden ist, muss aus Gründen der Bilanzvorsicht eine vollumfängliche Wertberichtigung erfolgen (Art. 960 Abs. 2 und 3 i.V.m. 960a Abs. 3 und 958 Abs. 1 Ziff. 5 OR).
Die Straftatbestand des Betrugs (Art. 146 StGB) ist erfüllt, wenn der Vertreter eines Unternehmens eine Darlehensgeberin mit der geschönten (noch nicht revidierten) Jahresrechnung ohne die vorerwähnte Wertberichtigung zum Vertragsschluss verleitet.
Die Revisionsstelle setzte anschliessend die vollständige Wertberichtigung durch, was zur Überschuldung der Gesellschaft führte. Die Erkennbarkeit der noch ausstehenden Revision ändert aber nichts an der Arglistigkeit des Täters, weil die Darlehensgeberin dennoch von der Korrektheit der Jahresrechnung ausgehen darf: Letztere muss von Gesetzes wegen die wirtschaftlichen Gegebenheiten wahrheitsgetreu abbilden (Art. 957a Abs. 2 Ziff. 1 OR).
Urteil Nr. 4A_387/2023 vom 2. Mai 2024, E. 8, m.w.N
Urteil des Bundesgerichts: Im Nachgang zur höchstrichterlichen Rechtsprechung, wonach sechs Monate nach Ablauf des Geschäftsjahrs (Art. 699 Abs. 2 OR) keine stillschweigende Verlängerung des VR-Mandats erfolgt (BGE 148 III 69), hat sich die Frage gestellt, ob dies auch für die Revisionsstelle gilt.
Mit dem Urteil vom 2. Mai 2024 stellt das Gericht dar, dass die Amtszeit der Revisionsstelle im Falle der unterbleibenden Generalversammlung bzw. der ausbleibenden Genehmigung der Jahresrechnung nach den sechs Monaten nicht abläuft, sondern sich automatisch verlängert und solange weiterdauert, bis wieder eine Generalversammlung abgehalten wird und die Genehmigung der Jahresrechnung erfolgt (vgl. schon BGE 86 II 171, E. 1). Die analoge Anwendung von BGE 148 III 69 wird abgelehnt, weil der Gesetzwortlaut (Art. 730a Abs. 1 OR) klar ist.
Urteil Nr. 9C_496/2022 et al. vom 18. Juni 2024, E. 10
Urteil des Bundesgerichts: Die ehemalige Revisionsstelle einer Pensionskasse haftet solidarisch mit den Mitgliedern des Stiftungsrates für rund CHF 15 Millionen plus Zinsen von 5% seit 2012 (Art. 52 Abs. 4 BVG i.V.m. Art. 755 OR).
Das Gericht hielt es für erwiesen, dass die Revisionsstelle ihre Pflicht zur Prüfung der Ordnungsmässigkeit der Rechnungslegung sowie der Rechtmässigkeit der Verwaltung und der Vermögensanlagen in den Jahren 2008 bis 2012 verletzt hat. Insbesondere wird der Revisionsstelle vorgeworfen, dass sie die Verletzung der Anlage-Limiten für alternative Anlagen nicht moniert hat, wobei es genau hier zu grossen Verlusten gekommen ist. Das Argument des rechtmässigen Alternativverhaltens (der passive Stiftungsrat hätte die Anlagen des Vermögensverwalters auch gutgeheissen, wenn er von der Revisionsstelle informiert worden wäre) wird vom Gericht mit dem Argument verworfen, dass die Revisionsstelle der BVG-Aufsicht gegenüber meldepflichtig war (Art. 36 BVV 2) und dass diese Gegenmassnahmen hätte ergreifen können, wenn eine Meldung erfolgt wäre.